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Maëlle Mercier – Jean Jaurès: Kunst und Wissenschaft müssen die Politik inspirieren

Maëlle Mercier

Schiller Institut, Paris.

 

Guten Tag. Ich spreche für eine Gruppe junger Aktivisten, die sich im Hinblick auf die aktuellen Herausforderungen mit [dem französischen Historiker und Politiker] Jean Jaurès beschäftigt haben. Wir hatten dabei jenen entscheidenden Moment des 20. Jahrhunderts im Blick, in dem Jaurès nicht nur umgebracht wurde, sondern auch die Menschheit in eine neue Barbarei abglitt – in den Krieg der Schützengräben und Ideologien.

Meine Damen und Herren, warum sind wir hier heute zusammengekommen? Was ist die Grundlage des Bestrebens der BRICS-Länder, ein neues Paradigma zu erzeugen und ganz reale Infrastrukturprojekte zu schaffen, die mit atemberaubendem Tempo auf der ganzen Welt entstehen?

Dahinter steht lediglich eine Idee – eine sehr kleine Idee, die aber trotz ihrer Winzigkeit Menschen mitreißt, Berge versetzt und schon bald auch, durch die Neue Seidenstraße des Weltraums und das Mondprogramm, das Universum verändern wird!

Diese Idee hätte jedoch niemals in den pragmatischen „Seelen“ oder im „realistischen“ Denken unserer westlichen Politiker keimen können.

Warum? Weil sie vorprogrammiert sind, im Rahmen eines vorgegebenen Systems zu denken, seiner Geopolitik, seinen Schulden, seinen Verträgen und seinen Machtverhältnissen – wer herrscht und beherrscht wird. Sie urteilen nur nach dem, was sie „sehen“, nach dem, was es schon gibt oder schon gegeben hat.

Ohne Phantasie, ohne die Kraft des Geistes, also ohne die Fähigkeit, uns über die Gegenwart und über die Materie hinwegzusetzen, wird es keine Zukunft geben.

Die Herausforderung für unsere Zivilisation besteht daher darin, ihr ihr „Ideal“, ihre „Unendlichkeit“ zurückzugeben. Das ist eine schwierige Aufgabe in dieser materialistischen, gewalttätigen und sexualisierten Gegenkultur, die den Menschen zum Tier reduziert, das nur von seinen Leidenschaften und seinen Sinneswahrnehmungen bestimmt wird; gerade hier in Frankreich, im Land des cartesianischen Zweifels, wo die einzige Alternative zum Bestialischen keineswegs „das Ideal“ ist, sondern das Gefängnis der impotenten, abstrakten Mathematik und Analyse – die Franzosen sind ja bekannt dafür, über alles zu meckern, alles zu kommentieren, aber nichts zu tun!

Kurz, um den Menschen ihre ganze Menschlichkeit und die Fähigkeit zurückzugeben, die Zukunft zu gestalten, muß wieder eine Harmonie zwischen Emotionen und Verstand entstehen und die Vorstellungskraft wiederbelebt werden.

Das ist die Rolle der Kunst (von Friedrich Schiller wunderbar dargestellt), der Philosophie und der Wissenschaft (Leibniz), doch läßt sich dieses Ziel auch durch die Politik realisieren?

Ja! Und der Beweis dafür ist der philosophische Kampf von Jean Jaurès, der von Leibniz und Schiller inspiriert wurde.

Bekanntermaßen wurde Jean Jaurès ermordet, weil er versucht hatte, den Ersten Weltkrieg zu verhindern. In diesem Krieg zerstörten sich die Großmächte selbst, obgleich sie, wie heute, kurz davor standen, eine neue Allianz, ein neues Modell für Frieden und Fortschritt zu bilden, worin das Britische Empire eine Bedrohung für seine Macht sah.

Tatsächlich hatten Frankreich, Rußland und Deutschland, dank einiger ihrer führenden Persönlichkeiten wie Gabriel Hanotaux oder Sergej Witte, durch den Bau der Transsibirischen Eisenbahn und zuvor schon der Berlin-Bagdad-Bahn bereits die Grundlagen der Neuen Seidenstraße gelegt.

Aber schon damals türmten sich Sturmwolken am Horizont auf – erst über Frankreich, bevor sie in den 30er Jahren nach Italien und Deutschland weiterzogen. Das waren die gleichen Wolken, von denen Jaurès einst sagte: „Der Kapitalismus trägt den Krieg mit sich, wie die Wolken das Gewitter.“

Im Jahr 1859, als Jaurès geboren wurde, erschien das Buch Über die Entstehung der Arten. Darin entwickelte der Brite Charles Darwin seine bekannte Evolutionslehre. Aber stellt nicht diese Theorie vom Überleben des Stärkeren die perfekte Rechtfertigung des oligarchischen Prinzips sozialer Aussonderung dar, auf das der britische Liberalismus und Malthusianismus so stolz sind?

Schon kurz zuvor hatte Gobineau, ein Franzose, sein Buch Über die Ungleichheit der Menschenrassen veröffentlicht.

Somit kam am Ende des 19. Jahrhundert in verschiedenen intellektuellen Kreisen die Modeerscheinung auf, „Rassen“ nach der äußeren Erscheinung der Menschen zu beschreiben.

So lieferte der linke französische Anthropologe Vacher de Lapouge, der es liebte, die Schädel der Menschen auszumessen, um die These seines Buches Der Arier und seine soziale Rolle zu belegen, bereits die wichtigsten Argumente für die Nazis: „Es gibt keine Menschenrechte, genausowenig wie es Rechte für Gürteltiere gibt (…) oder für das Rind, das man essen kann. Es gibt nur die Kraft. Nichts gegen Brüderlichkeit, aber wehe denen, die dabei verlieren! Das Leben erhält sich allein durch den Tod. Um zu leben, muß man essen, und töten, um zu essen.“

Was ist die gemeinsame Grundlage aller dieser Lehren, die in jenen Jahren in Frankreich entstanden und den perfekten Nährboden für den Antisemitismus und den antideutschen Revanchismus schufen?

Es war die starre, materialistische Sicht des Menschen, der nur durch den eigenen Körper, seine organische Materie und seine physischen Beziehungen zur Welt – einer vollkommen willkürlichen Welt – bestimmt ist. Der menschliche Geist und damit seine Fähigkeit, Dinge zu verändern, zu entdecken oder zu schaffen, wurden völlig negiert.

Dieser Zustand hat sich durch die Vorherrschaft des Positivismus noch verschlimmert, einer Lehre, die von dem Franzosen Auguste Comte begründet wurde. Er teilte die Geschichte in vorgegebene Zeitalter ein und schloß die Rolle des menschlichen Willens und der Ideen aus. Laut Comte gab es zwei Zeitalter: die theologische Ära des Mittelalters und die metaphysische Ära der Renaissance. Dann folgte das moderne, rationale Zeitalter: Das Zeitalter des Positivismus, in dem eine von der Aufklärung übernommene sogenannte Wissenschaft herrschte.

Diese objektive Wissenschaft, vorangetrieben von Newton und Descartes, hätte endlich verstanden, daß die Welt vollkommen von der Materie abhängig sei und es keinen höheren Sinn, keinen Gott und keine Harmonie gäbe. In diesem Chaos wäre nichts verständlich außer durch Annäherung und indem man sich auf Tatsachen stützt, die man sich durch Sinneswahrnehmung angeeignet hat.

Kurz, da es keine Ideen gibt, könne man die Ursachen nicht bestimmen und folglich sei man auch unfähig, Entdeckungen zu machen – nicht einmal die Gravitation, die für unsere Augen unsichtbar ist! Und man könne die Welt nicht verändern.

Für die Arbeiterparteien und das politische Umfeld von Jaurès bedeutete dieses Denken eine starke Behinderung – bei linken und revolutionären Parteien eigentlich unglaublich!

Jules Ferry beispielsweise, der in Frankreich als Gründer des säkularen Bildungswesens gefeiert wird, sagte: „Man leistet keinen Widerstand gegen das, was ist; man kann in der gesellschaftlichen Praxis das, was sein könnte, nicht an die Stelle dessen setzen, was ist. Die Konzentration des Kapitals ist eine klare Tatsache… man kämpft nicht gegen diese allgemeine Tendenz, die wie eine mechanische Kraft wirkt – ein unmöglicher und lächerlicher Kampf (Die positive Philosophie, 1867).

Das gleiche gilt für die Marxisten, die eine materialistische Auffassung der Geschichte vertreten. Nach ihrer Logik sind alle Individuen und das Proletariat nur objektive Kräfte, die am Klassenkampf teilhaben, der über sie hinausgeht.

Unter diesen Umständen ist Fortschritt unmöglich und wird sogar entschieden abgelehnt. 1911 brachten es die Anhänger von Charles Maurras, einem extrem rechten Nationalisten, und Georges Sorel, der sich selbst als Marxist bezeichnete, auf den Punkt: „Um die Zivilisation zu retten, ist das erste Ungeheuer, das man töten muß, der Glaube an den Fortschritt, an den Optimismus, … der die unheilvolle Farce der Französischen Revolution 1789 hervorgebracht hat.“

Unter diesen Umständen kann man sich nur schwer eine andere Lösung als den Kampf aller gegen alle um den Lebensraum vorstellen. Das sollte uns gerade heute zu denken geben, da die Politik uns das Märchen der erneuerbaren Energien auftischt und das Nullwachstum damit begründet, daß die Schaffung neuer Ressourcen unmöglich sei.

Im Namen des Fortschritts, und um der Welt und den Menschen ihr Recht auf Unsterblichkeit sowie ihr Recht auf eine produktive Zukunft wiederzugeben, führte Jaurès seinen politischen und philosophischen Kampf gegen den aufkeimenden Faschismus.

In seiner Doktorarbeit De la réalité du monde sensible („Über die Realität der sinnlichen Welt“), die Jaurès unter Anleitung eines Philosophen aus der Leibniz-Tradition ausarbeitete, attackierte er die Positivisten und Materialisten, aber ebenso die „Idealisten“ und „Formalisten“, die er als genauso gefährlich ansah, da die Idealisten die Realität als vage Illusion ablehnten und die Formalisten diese auf ein „trockenes logisches Konstrukt“ reduzierten.

Sein Ziel war es, nicht den ideologischen, sondern den wissenschaftlichen Charakter des Fortschritts als integralen Bestandteil der Natur und des menschlichen Wesens aufzuzeigen. Er wies nach, daß es eine ständige Wechselwirkung zwischen Leben und Denken, zwischen Ideen und Dingen gibt, was die ständige Schaffung immer höherer Seinsformen ermöglicht.

Jaurès schreibt: „Für alles Lebende stellt sich das Problem des Unendlichen in vollem Umfang, in welcher Periode des Universums es auch entstanden ist… Die Summe der Bewegungen in der Welt ist ein handelndes Unendliches, in dem die Mathematik keinen Platz hat. Man darf das Universum und seine Bewegungen und Energien nicht als ein endloses Faß betrachten… Hier sind es nicht die Ressourcen, nach denen die Ausgaben bemessen werden, sondern die Unendlichkeit der Arbeit, die geleistet werden muß, um für eine entsprechende Unendlichkeit der Ressourcen zu sorgen.“ – Ein deutlicher Angriff auf die Vertreter der Austeritätspolitik, die heute in Washington und Brüssel regieren.

Dies deckt sich voll und ganz mit seinem politischen und parlamentarischen Kampf, demzufolge „jedes Individuum das Recht hat, sich ganz zu entwickeln. Jeder hat daher das Recht, von der Menschheit all das zu verlangen, was seine Bemühungen fördert“ (Sozialismus und Leben). Und tatsächlich hat Jaurès die Idee nationaler Kreditschöpfung, einer öffentlichen Bank, die Zahlungsmittel ausgibt, um den zukünftigen Produktionsbedarf der Nation zu decken – was schließlich in den „glorreichen 30 Jahren“ nach dem Zweiten Weltkrieg verwirklicht wurde -, gegen den Kapitalismus und die Wucherer verteidigt.

Wir wollen eine weitere Passage seiner Doktorarbeit betrachten, die aus philosophischer Sicht sehr polemisch, aber von grundlegender Bedeutung ist. Nachdem er sich zu Beginn des 3. Kapitels im Bereich des sehr Kleinen von den Molekülen zu den Atomen herabbewegt hat, schließt er:

„Die Wissenschaft selbst, wenn sie nach der Ursache der materiellen Bewegungen und dem letzten Element der Materie sucht, führt uns zu einer Realität, in der nichts Materielles mehr vorhanden ist, was nicht mit den Sinnen wahrgenommen werden kann, sondern nur für den Geist existiert.“

Jaurès vergleicht seine Untersuchung mit der von Virgil und Dante, die, nachdem sie einen anderen Weg eingeschlagen haben, um den Tiefen der Hölle zu entkommen, endlich die Sterne wiederentdecken, und fährt fort: „Geleitet von der Wissenschaft sind wir immer weiter hinabgestiegen in die Tiefen der Materie, und auch dort, in diesen gefährlichen Abgründen, wo man sich fragen sollte, ob sich nicht alles in blinder Fatalität auflöst, fanden wir überlagerte Bewegungen, Kreise und Strudel, und am anderen Ende dieses Abgrundes entdeckten auch wir wieder die Sterne.“

Lassen Sie mich hier abschweifen zu dem großen Physiker Max Planck, dem wir die Entdeckung des Wirkungsquantums verdanken. Das folgende schrieb er in den 1930er Jahren, als das materialistische und utilitaristische Menschenbild in Deutschland seinen Höhepunkt erreichte, mit all den Schrecken, die damit einhergingen:

„Als Physiker, der sein ganzes Leben der nüchternen Wissenschaft, der Erforschung der Materie widmete, bin ich sicher von dem Verdacht frei, für einen Schwarmgeist gehalten zu werden. Und so sage ich nach meinen Erforschungen des Atoms dieses: Es gibt keine Materie an sich. Alle Materie entsteht und besteht nur durch eine Kraft, welche die Atomteilchen in Schwingung bringt und sie zum winzigsten Sonnensystem des Alls zusammenhält. Da es im ganzen Weltall aber weder eine intelligente Kraft noch eine ewige Kraft gibt – es ist der Menschheit nicht gelungen, das heißersehnte Perpetuum mobile zu erfinden – so müssen wir hinter dieser Kraft einen bewußten intelligenten Geist annehmen. Dieser Geist ist der Urgrund aller Materie.“

Tatsächlich sind wir, wenn wir darüber nachdenken, immer mit diesem Paradox konfrontiert, und Jaurès zögerte nicht, dieses in einer Debatte mit Marx’ Schwiegersohn Paul Lafargue zu verwenden – eine Debatte, die unter dem Titel „Materialismus und Idealismus im Konzept der Geschichte“ veröffentlicht wurde.

Wie kann unser Gehirn neue Ideen, neue wissenschaftliche Entdeckungen hervorbringen, wenn der Ursprung dieser Ideen nicht in den mechanischen Hebeln der Materie oder in einzelnen chemischen Reaktionen zu finden ist?

Jaurès antwortete:

Wenn ich diese Worte in diesem Moment ausspreche, so deshalb, weil die Idee, die ich in dieser Minute zum Ausdruck bringe, letztendlich aus einer vorherigen Idee und der Serie aller vorangegangenen Ideen hervorgegangen ist. Aber auch deshalb, weil ich in der Zukunft erkennen will, was ich vor mir sehe – ein Ziel, eine Absicht, einen Zweck; und deshalb wurde mein gegenwärtiger Gedanke, auch wenn er scheinbar durch die Serie früherer Gedanken bestimmt ist, auch durch eine Vorstellung von der Zukunft angeregt.

In der Geschichte ist es dasselbe: Man kann zwar alle historischen Phänomene durch reine wirtschaftliche Evolutionen erklären, aber man kann sie auch durch das unermüdliche und ständige Streben der Menschheit nach einer höheren Seinsform erklären. Vor der Erfahrung der Geschichte, vor der Ausbildung dieses oder jenes wirtschaftlichen Systems, trug die Menschheit bereits eine vorgefaßte Idee der Gerechtigkeit und des Rechts in sich, und dieses vorgefaßte Ideal strebt von einer Zivilisationsform zu einer höheren Zivilisationsform.“

Ideen sind keine gesellschaftlichen Konventionen, bloße Erfindungen des Geistes oder der menschlichen Gesellschaft. Sie sind keine von der realen Welt losgelösten Dinge. Sie sind „natürlich“ in dem Sinne, daß sie vom Universum durch den menschlichen Geist hervorgebracht werden, um die Aufgabe der Schöpfung der Welt fortzusetzen.

Aber was ist diese Idee, die der BRICS und der Neuen Seidenstraße zugrunde liegt? Es ist die Idee des Fortschritts, des Fortschritts über die Grenzen des Unbekannten hinaus. Und wie wird er sichergestellt? Durch Kreativität und menschliche Entdeckerkraft.

Wir müssen den Kampf von Jean Jaurès unbedingt gewinnen. Tun wir das nicht, wird die Menschheit – und mit ihr die Welt – zerstört werden.

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